Es ist Oktober 2005. Mikko Fischer steht gelassen neben dem Rektor der Universität Köln und lächelt sympathisch in die Kameras, während diese ihn ablichten und er stolz sein Vordiplom in Mathematik in der Hand hält. Als erster Frühstudent hat er es geschafft, nicht nur über einen Zeitraum von vier Jahren erfolgreich am Frühstudium teilzunehmen, sondern auch alle nötigen Prüfungen für das Vordiplom in Mathematik zu absolvieren.

Die Resonanz in den Medien ist gewaltig: Drei Fernsehsender, der Deutschlandfunk und mehrere Zeitungsredaktionen sind anwesend, um ein Interview mit ihm zu bekommen. Der Beitrag von Deutschlandfunk erscheint kurze Zeit später bei Spiegel Online, und auch der Kölner Stadtanzeiger veröffentlicht einen Artikel, um über den „Überflieger“ zu berichten. So genannt werden will Mikko Fischer aber definitiv nicht, wie er in den Interviews klarzustellen versucht.

Felix Dietlein schließt 2010 sein Abitur mit einem Schnitt von 1,0 und mit 837 von 840 möglichen Punkten ab und absolviert nebenbei ein Diplom in Mathematik. Höchstbegabter? Genie? Wunderkind? Die Süddeutsche Zeitung kann sich gar nicht entscheiden, was nun am ehesten zutrifft.

Und ähnlich wird auch über Sebastian Weingärtner berichtet, der 2011 sein Informatikstudium an der Universität Würzburg parallel zur Schule mit 19 Jahren abschließt. „Außenseiter, Überflieger, hochbegabt“, schreiben die Stuttgarter Nachrichten, auch wenn er sich mit keinem dieser Begriffe identifizieren kann. Der Artikel mutmaßt weiter, dass sein IQ wohl jenseits der 130 liegen dürfte, der magischen Grenze zur Hochbegabung. Bestätigen will Sebastian Weingärtner das nicht, aber anscheinend können sich die Journalisten den Studienerfolg nicht anders erklären.

Ein Zahlenwert und zwei Buchstaben

Zeitungsartikel wie diese bestimmen maßgeblich die Außenwirkung und das öffentliche Bild des Frühstudiums mit. Dabei kann leicht der Eindruck entstehen, das Frühstudium sei ein elitäres Programm für hochbegabte Schüler mit einem IQ von mindestens 130, die schon einige Klassen übersprungen und sonst keine Hobbys haben. Und wer sich selbst mit vier Jahren noch nicht mindestens Lesen, Schreiben und Geigespielen beigebracht hat, tauge sowieso nicht dafür. Das ist – zugegeben überspitzt formuliert – das Bild, das Zeitungsartikel über einzelne Frühstudenten häufig vermitteln. Doch nichts könnte meiner Erfahrung nach der Realität wohl ferner liegen.

Wir lesen solche Zeitungsartikel und sind erst einmal beeindruckt, wie jung und mit welchem Erfolg diese Schülerinnen und Schüler bereits studiert haben. Das geht mir im Übrigen ganz genauso, wenn ich Zeitungsartikel über mich oder andere Frühstudenten lese. Obwohl ich selbst miterlebt habe, wie es ist, Frühstudent zu sein, bleibt es einfach nur beeindruckend. Und dann fangen wir an, uns zu fragen, wie so etwas möglich ist.

Glücklicherweise halten die Zeitungsartikel auch bereits die ultimative Erklärung parat, indem sie auf das Stichwort „Hochbegabung“ verweisen. Dabei steckt in dem Begriff „Begabung“ das Wort „Gabe“, was so viel heißt wie „Geschenk“. Als hätten Frühstudenten einfach das Glück gehabt, die richtigen Gene abbekommen zu haben. Und das verschafft ihnen die nötige Portion „intellektuelle Leistungsfähigkeit“, mit anderen Worten „Intelligenz“, um neben der Schule noch einem Frühstudium nachzugehen.

Unsere gängige Auffassung von Intelligenz manifestiert sich dabei in einem einzigen Zahlenwert und zwei Buchstaben: IQ. Anfang des 20. Jahrhunderts mit der Entwicklung der ersten Intelligenztests entstanden, sollte der Intelligenzquotient die „intellektuelle Leistungsfähigkeit“ von Menschen abschätzen. Heute hat sich ein hoher IQ zu einem Synonym für Intelligenz und Begabung entwickelt: Ab 130 IQ-Punkten gilt man als hochbegabt. Diese Vorstellung ist gesellschaftlich geprägt und hat sich tief in uns verankert. Wir erfahren von einer außergewöhnlichen Leistung („Hochleistung“), wenn wir zum Beispiel die oben erwähnten Zeitungsartikel über einzelne Frühstudenten lesen. Und gedanklich labeln wir diese automatisch als „hochbegabt“. Wir verwechseln im normalen Sprachgebrauch „Hochleistung“ mit „Hochbegabung“.

Mir geht es an dieser Stelle nicht darum abzustreiten, dass es hochbegabte Frühstudenten gibt. „Begabung“ ist bestimmt auch ein Faktor, der zur Entstehung von außergewöhnlichen Leistungen beitragen kann. Aber es ist ein weitverbreitetes gesellschaftliches Phänomen, dass „leistungsstark“ mit „begabt“ in einen Topf geworfen wird. Egal ob über Frühstudenten, erfolgreiche Sieger der Mathematik-Olympiade oder Gewinnerinnen bei Jugend forscht berichtet wird: Stets ist die Rede von „hochbegabten“ Schülerinnen und Schülern.

Wir vergessen leicht, dass mehr als nur „Begabung“ zur Entstehung von Hochleistung nötig ist: Motivation, harte Arbeit, Selbstdisziplin, Hartnäckigkeit, die Unterstützung unzähliger Menschen und vieles mehr. Natürlich spielt die „intellektuelle Leistungsfähigkeit“ dabei eine gewisse Rolle. Aber es ist eben nur ein Faktor von vielen, der gerne überbewertet wird.

Eine Studie aus Würburg

Welche Faktoren am besten den Erfolg eines Frühstudiums vorhersagen können, wollten 2010 auch die Organisatoren des Frühstudiums in Würzburg wissen. Unter der Leitung von Eva Stumpf, zu diesem Zeitpunkt Privatdozentin im Bereich Psychologie und Leiterin der Begabungspsychologischen Beratungsstelle, wurden im Rahmen einer Begleitstudie die Daten sämtlicher 261 Schülerinnen und Schüler ausgewertet, die seit Projektbeginn im Herbst 2004 am Frühstudium in Würzburg teilgenommen hatten.

Aber was bedeutet nun „Erfolg im Frühstudium“? Ein Erfolg könnte schon sein, dass die Teilnehmer ihren Interessen nachgehen können und dadurch insgesamt glücklicher und motivierter sind. Oder dass sie einmal in ein Fach hineinschnuppern und sich jetzt besser vorstellen können, was sie später studieren möchten. Das lässt sich jedoch relativ schwer messen, weshalb die Autoren der Studie zwei leichter zu erfassende Kriterien definiert haben: die Wahrscheinlichkeit, mit der sich die Frühstudenten für das zweite Semester bewerben, und die gesamte Teilnahmedauer am Frühstudium.

Schaut man sich die Ergebnisse der Würzburger Studie an, dann zeigt sich: Je höher der IQ der Frühstudenten und umso besser deren Schulleistung, umso länger nehmen sie am Frühstudium teil. Der Einfluss dieser beiden Faktoren (Anteil an der Varianzaufklärung) liegt dabei bei sage und schreibe 10 bis 20 Prozent! Das ist weniger, als man nach dem Lesen der Zeitungsartikel erwarten würde.

Sind es also doch nicht nur die Intelligenzbestien und Einser-Schüler, die neben der Schule noch einem Frühstudium nachgehen? Die verbleibenden ungeklärten 80 Prozent zeigen: Andere Faktoren, zum Beispiel die Motivation der Frühstudenten, der Arbeitsaufwand, das Engagement für das Frühstudium und die Unterstützung der Schule, spielen bei einem erfolgreichen Frühstudium ebenfalls eine wichtige Rolle. Das ist natürlich nicht so einfach in Studien zu messen. Aber Erfolg lässt sich eben nicht alleine auf Begabung reduzieren.

Die Story mit der Hochbegabung

„Hochbegabung“ ist eine einfache Erklärung. Jeder versteht sie, und sie nimmt uns die Arbeit ab, über all die komplexen Einflussfaktoren nachdenken zu müssen, die möglicherweise auch eine wichtige Rolle bei der Entstehung von Hochleistung beziehungsweise in unserem Beispiel bei der erfolgreichen Teilnahme am Frühstudium gespielt haben. Hochbegabung zieht eine klare Trennlinie zwischen diesen „hochbegabten“ Frühstudenten, die anscheinend in der Lage sind, neben der Schule zu studieren und außergewöhnliche Leistungen zu erbringen, über die wir dann in der Zeitung lesen, und den anderen „normalen“ Schülern.

Außerdem verkauft sich die Story mit der „Hochbegabung“ einfach besser. Da lassen sich jede Menge Superlative in den Zeitungsartikel einbauen, irgendetwas mit „Wunderkind“ in der Überschrift schreiben und noch das junge Alter der Frühstudenten erwähnen – und schon hat man die Aufmerksamkeit der Leserschaft sicher. Und diese bekommt eine einfache und einleuchtende Erklärung, warum Frühstudenten anders als „normale Schüler“ sind.

Wer will schon wissen, wie viele Stunden die Frühstudenten mit dem Nacharbeiten der Vorlesungen oder irgendwelchem Papierkram zugebracht haben, wie viel Selbstdisziplin und Motivation es erfordert, über Wochen hinweg konsequent ein Frühstudium zu verfolgen, und wie viele andere Menschen sich extra Zeit genommen haben, um sie dabei zu unterstützen.

Vor allem aber motiviert es uns nicht dazu, unseren eigenen Status quo infrage zu stellen. Es ist doch schon genetisch zementiert und per IQ-Test belegt, ob wir hochbegabt sind oder nicht. Es gibt uns Sicherheit, nicht die eigene schulische Komfortzone verlassen zu müssen, in der sich auch all die anderen „normalen“ Schüler befinden, und den Bereich zu erkunden, der angeblich für all die „Hochbegabten“ reserviert ist. Es motiviert nicht, uns als „normaler“ Schüler oder Schülerin zu fragen, ob wir nicht auch am Frühstudium teilnehmen könnten und ob nicht Motivation, Training und gute Unterstützung genauso wichtig, wenn nicht sogar wichtiger für ein Frühstudium sein könnten. Es motiviert nicht. Und genau deshalb sollten wir aufhören, Frühstudenten pauschal als „hochbegabt“ abzustempeln.

Warum Hochbegabung nicht alles ist

Wenn ich an mein Frühstudium zurückdenke, dann wurde vieles erst durch äußerst glückliche Umstände möglich. Ich lernte mit Professor Lukas Eng gleich in der ersten Vorlesung einen Dozenten an der TU Dresden kennen, der mein Frühstudium in der Folge maßgeblich unterstützte und mich betreute. Ich traf auf viele Menschen, sei es im Prüfungsamt, in der Mensaleitung oder der universitären Verwaltung, die zusätzlichen Aufwand auf sich nahmen, um mich als Frühstudent zum Beispiel extra auf die Prüfungsliste zu setzen, mir eine Mensakarte auszustellen oder später die Anrechnung aller Leistungsnachweise zu ermöglichen.

Dabei wurde ich in großem Maße von meiner Schule, der Schulleitung sowie vielen Lehrern und Schülern unterstützt. Frau Richter, meine Schulleiterin, genehmigte nicht nur die Freistellungen für das Frühstudium, sondern sorgte auch dafür, dass mich Grit Gießmann als Mentorin ab Beginn der 11. Klasse begleitete. Sie sorgte auch dafür, dass ich in der Oberstufe Physik als Einzelunterricht und zudem als dritten Leistungskurs wahrnehmen konnte. Und als Geschichte in der 12. Klasse für das fünfte Semester ausfiel, stellte sie meine Geschichtslehrerin mit einer Wochenstunde Einzelunterricht frei, um mich auf die mündliche Abiturprüfung vorzubereiten, die ich in Geschichte ablegen musste.

Es waren diese Menschen, die sich nicht scheuten, die Extrameile für Frühstudenten zu gehen, die in jedem System einen „Sonderfall“, eine „Ausnahmeregelung“, einen „zusätzlichen Aufwand“ darstellen. Und genau diesen Menschen ist letztlich auch der Erfolg meines Frühstudiums zu einem großen Teil zu verdanken. Sie waren die wirklichen Geschenke!


Basierend auf drei Jahren eigener Erfahrung als Frühstudent hat Benjamin Wolba das erste Buch zum Frühstudium in Deutschland geschrieben.

Wer überlegt, ob das Frühstudium auch für die eigenen Schüler passen könnte, sollte unbedingt mal einen Blick in dieses Buch werfen!