Im Jahr 1999 startete eines der interessantesten Experimente der modernen Begabtenförderung in Deutschland: Schülerinnen und Schüler der gymnasialen Oberstufe sollten die Möglichkeit bekommen, Anfängervorlesungen im Fach Mathematik zu hören, noch bevor sie die Grundlagen dazu im Schulunterricht behandelt hatten.

Sie würden Vorlesungen während der Schulzeit besuchen zusammen mit anderen Studenten, die mindestens drei bis fünf Jahre älter sein würden. Sie würden als Frühstudenten immatrikuliert sein und damit auch die Chance erhalten, an echten Universitätsklausuren teilzunehmen. Und sie würden sich diese bei Bestehen für ihr späteres Studium anrechnen lassen können. Die Idee des Frühstudiums war geboren: Studieren vor dem Abitur.

Eine Erfolgsgeschichte

Was als Experiment an einzelnen Universitäten begann, etablierte sich schon nach kurzer Zeit als festes Programm im Lehrveranstaltungskatalog und inspirierte durch seinen Erfolg Universitäten in ganz Deutschland, ebenfalls ein Frühstudium anzubieten. Mittlerweile nehmen jedes Semester etwa 2 000 Schülerinnen und Schüler daran teil – von der 7. bis zur 13. Klasse an über 60 verschiedenen Universitäten. Auch das Fächerangebot hat sich von den MINT-Fächern auf die Sprach- und Geisteswissenschaften deutlich erweitert, als immer mehr Bereiche angefangen haben, ihre Vorlesungen für Frühstudenten zu öffnen.

So lernen Frühstudenten schon früh Alltag und Leben an einer Universität kennen. Sie können in verschiedene Studiengänge hineinschnuppern, gezielt ihren Interessen nachgehen, sich mit anderen Studenten austauschen, Erfahrung sammeln und sich so auf ein späteres Studium vorbereiten. Außerdem können sie freiwillig an den Prüfungen am Semesterende teilnehmen und sich diese – bei Bestehen – für ein späteres Studium anrechnen lassen.

Auch für die Schulen und Universitäten bietet das Frühstudium eine ganze Reihe an Vorteilen: Die Frühstudenten können ihr erworbenes Wissen mit in den Unterricht einbringen und Mitschülern helfen – Lehrer werden so beim Thema Begabtenförderung entlastet. Das Frühstudium kann Schüler auch bereits früh an eine Universität heranführen, sie zu einem späteren Studium motivieren und als Studienorientierung die Abbrecherquote senken.

Physik studieren mit 15 Jahren

Geradezu ehrfürchtig hatte ich zugehört, wenn andere Mitschüler von diesen legendären Frühstudenten erzählt hatten, die es offenbar fertigbrachten, neben der ganzen Schularbeit zudem an einer Universität richtige Vorlesungen zu besuchen. Ich war davon selbst stets ziemlich beeindruckt gewesen und freute mich ungemein, als mich am Ende der 9. Klasse Lehrer fragten, ob ich nicht Interesse hätte, selbst am Frühstudium teilzunehmen. Da war ich gerade 15 Jahre geworden. In der Folge hatte ich das Privileg, drei Jahre lang, vom Beginn der 10. Klasse 2012 bis zum Abitur 2015 am Frühstudium der TU Dresden im Fach Physik teilzunehmen.

Alles begann mit dem Besuch der Vorlesung “Experimentalphysik I” im ersten Semester, wobei ich das Glück hatte, den Dozenten Professor Lukas Eng kennenzulernen, welcher zu meinem Mentor auf universitärer Seite wurde. Nachdem ich die Klausur zu seiner Vorlesung “Experimentalphysik I” bestanden hatte, nahm ich auch in den nachfolgenden Semestern am Frühstudium teil und wurde jedes Semester für genau eine Lehrveranstaltung von der Schule freigestellt. Ich merkte jedoch relativ schnell, dass die anderen Studenten noch viele andere interessante Vorlesungen hatten, und begann daher, aus eigenem Interesse weitere Vorlesungen mitzuverfolgen, mir den Lernstoff selbst anzueignen, Übungsaufgaben selbst zu rechnen und schließlich die Klausuren mitzuschreiben – ohne jemals die dazugehörigen Vorlesungen, Übungsgruppen oder Tutorien besucht zu haben.

So kam es, dass ich im Frühjahr 2015 mein Abitur ablegte, im Laufe des Sommers meine Bachelorarbeit am Institut für Angewandte Physik bei Professor Eng schrieb, sie im Herbst 2015 verteidigte und mit dem Masterstudium in Physik begann.

Dabei war ich definitiv nicht mit dem Ziel in mein Frühstudium gestartet, den Bachelor in Physik neben der Schule zu absolvieren. Es hatte sich vielmehr mit der Zeit ergeben – durch mein Interesse an Physik und durch die großartige Unterstützung des Humboldt-Gymnasium Radeberg, der TU Dresden, von meinen Mitschülern und anderen Studenten und nicht zuletzt von meinen Freunden und meiner Familie.

Das Frühstudium ist vor allem ein großartiges Programm, um das Leben an einer Universität kennenzulernen und einen Einblick in verschiedene Studiengänge zu bekommen. Natürlich bietet es auch die Möglichkeit, sein späteres Studium zu beschleunigen, aber in erster Linie ist es eine Chance, bereits während der Schulzeit einen Einblick in die Welt des Wissens jenseits des Schulunterrichts zu erhalten.

Und deshalb wünsche ich mir, dass mehr Schülerinnen und Schüler diese Chance nutzen können und mehr Lehrer und Schulen sie bei einem Frühstudium unterstützen – ohne Druck, eine Prüfung mitschreiben zu müssen; ohne Angst, sich den Abiturdurchschnitt dadurch zu ruinieren; einfach nur aus Interesse. Genau deshalb habe ich ein Buch über das Frühstudium geschrieben, über das Programm allgemein und meine persönlichen Erfahrungen.

Auf dem magentafarbenen Sofa

Bei meinen Recherchen für das Buch schrieb ich im September 2017 die Deutsche Telekom Stiftung an. Sie hatte das Frühstudium in Deutschland zehn Jahre lang bis 2014 unterstützt, 2007 eine große Studie dazu in Auftrag gegeben und 2012 selbst noch eine Befragung durchgeführt. Wenn also jemand einen Überblick über das Frühstudium haben sollte und vor allem darüber, was in den fünf Jahren seit der letzten Befragung passiert war, dann die Deutsche Telekom Stiftung.

Meine Anfrage stieß auf positive Resonanz, und zwei Monate später sitze ich im Hauptgebäude der Deutsche Telekom Stiftung in Bonn auf einem magentafarbenen Sofa und erzähle von meinem Buchprojekt. Tatsächlich hatte sich die Deutsche Telekom Stiftung 2014 nach dem Ende ihres finanziellen Engagements weitgehend aus dem Projekt zurückgezogen. Aber natürlich wäre es interessant zu wissen, wie sich das Frühstudium seitdem entwickelt hat.

Im Januar 2018 bekomme ich schließlich grünes Licht: Die Deutsche Telekom Stiftung hatte sich entschlossen, eine dritte groß angelegte Befragung zum Frühstudium im Sommer 2018 durchzuführen und damit auch mein Buchprojekt zu unterstützen. Das war einfach großartig! Während die Deutsche Telekom Stiftung im Sommer 2018 die Befragung durchführte, interviewte ich mehr als 20 andere Frühstudenten zu ihren Erfahrungen. Dabei heraus kam nicht nur das erste Buch zum Thema Frühstudium, sondern auch ein aktueller Überblick über das Frühstudium in Deutschland. Ich bedanke mich daher ganz herzlich bei der Deutsche Telekom Stiftung für ihre Unterstützung.

Perspektiven für das Frühstudium

Die Befragung zeigte, dass die Bedingungen für ein Frühstudium nie besser waren. Während jedoch die Anzahl an Universitäten, die das Programm anbieten, auch in den letzten Jahren noch zugenommen hat, ist die Gesamtzahl an Frühstudenten bei etwa 2.000 pro Semester stagniert und die durchschnittliche Anzahl pro Universität hat leicht abgenommen. Auch heute noch kennen viele Menschen das Frühstudium nicht. Vor allem Lehrer, Mitschüler und Eltern sind dabei die wichtigsten Multiplikatoren des Frühstudiums und natürlich sollten auch Schülerinnen und Schüler selbst diese Chance kennen, um es in Erwägung zu ziehen.

Das Frühstudium ist ein schlankes Angebot mit wenig Organisationsaufwand, welches Schülerinnen und Schüler individuell in ihrer Bildung voranbringt. Es müssen keine zusätzlichen Kurse organisiert werden. Es senkt die Abbrecherquote im Erststudium deutlich. Und es fördert Interesse und entwickelt persönlich weiter. Mittlerweile feiert das Frühstudium sein 20jähriges Jubiläum und indem wir anderen Menschen von diesem Programm erzählen, können wir diese Erfolgsgeschichte fortsetzen und Schülerinnen und Schülern helfen, schon früh das Beste aus ihrer Bildung zu machen.

Infos zum Frühstudium von der Deutsche Telekom Stiftung
www.fruehstudium.com


Basierend auf drei Jahren eigener Erfahrung als Frühstudent hat Benjamin Wolba das erste Buch zum Frühstudium in Deutschland geschrieben.

Wer überlegt, ob das Frühstudium auch für die eigenen Schüler passen könnte, sollte unbedingt mal einen Blick in dieses Buch werfen!