Die erste Anfrage kam bereits Ende Mai 2015, kurz nachdem das Abitur vorüber war. Die Journalistin einer Lokalzeitung wollte gerne ein Porträt über mich und mein Frühstudium schreiben, ob ich nicht Interesse an einem Interview hätte. Seit dem ersten Semester hatte sich niemand mehr außerhalb meines direkten Umfelds für mein Frühstudium interessiert, daher war ich von der Anfrage etwas überrascht. Aber mittlerweile war ich auch dabei, meinen Bachelor in Physik neben dem Abitur abzuschließen, das war wohl etwas anderes, als einfach „nur“ ein Frühstudent zu sein. Ich willigte also schließlich ein und gab mein erstes Interview über den Abschluss des Frühstudiums.

Alles wurde in dem Interview genau unter die Lupe genommen. Eine Frage reihte sich an die nächste, es wurde analysiert, wie ich zum Frühstudium gekommen war, wie ich es geschafft hatte, Prüfungen mitzuschreiben, welche Studenten und Dozenten ich getroffen hatte, ob ich auch ja noch genügend Kontakt zu anderen Mitschülern hatte und wann ich jeden Tag aufgestanden bin. Ich erzählte einfach von mir und dem Frühstudium, ohne weiter darüber nachzudenken. Am Ende bat ich darum, den Artikel nochmals gegenlesen zu dürfen, was sogar bewilligt wurde.

Irgendwann bekam ich dann den Artikel, er wäre fast fertig. Nur noch einige Zitate würden fehlen, und dann könnte er bald schon veröffentlicht werden. Ich war von dem Resultat dezent schockiert: Das war nicht ich! Was ich da las, war das Porträt eines weltfremden, verkappten Nerds ohne Hobbys, ohne Sozialkontakte und ohne Privatleben, der wie ein Löwe in der Zirkusmanege den Zuschauern zum Fraß vorgeworfen wird. Hatte ich in dem Interview nicht extra erwähnt, dass ich nicht als „Wunderkind“ bezeichnet werden will?! Prima, nun stand da trotzdem „Wunderkind“, mit dem Zusatz, dass ich eigentlich ja gar nicht so bezeichnet werden will.

Zirkuslöwen für die Schlagzeilen

Was zählt, ist die Story, nicht der Mensch dahinter. Das Interview wurde zurechtgepresst, damit es in das Bild des verschrobenen, hochbegabten Überfliegers passt: knallbunt angestrichen mit ein paar Superlativen, um schließlich inmitten anderer Zeitungsartikel ausgestellt zu werden wie eine Leuchtreklame, die um Aufmerksamkeit bettelt.

Was für einen Eindruck würde so ein Artikel bei anderen Schülern auslösen? Dass sie zu dumm sind für das Frühstudium und es gar nicht erst zu versuchen brauchen? Dass das Frühstudium ein elitäres Bildungsprogramm für Genies ist?! Auch weiter in die Zukunft gedacht: Was für ein Bild würde der Artikel von mir zeichnen, sollte ich mich später irgendwo einmal bewerben? Welche überzogenen Erwartungen würde er generieren? Wie würden Menschen reagieren, wenn ich diese Erwartungen doch nicht erfüllen könnte? Und sie feststellen müssten, dass der Löwe in der Zirkusmanege doch nur ein Mensch ist, der sich zwar ziemlich für Physik interessiert, dem aber deshalb bei Weitem nicht einfach jedes Kunststück gelingt.

Es bringt niemandem etwas, außer den Schlagzeilen, erfolgreiche Frühstudenten als hochbegabte Wunderkinder darzustellen, denen alles mühelos zufällt. Es führt dazu, dass andere Schüler ein statisches Selbstbild entwickeln und sich nicht zutrauen, das Frühstudium auch nur für ein Semester auszuprobieren. Und es vermittelt einen völlig falschen Eindruck davon, wie viele gemeinsame Anstrengungen von Schule und Universität, Mitschülern und Kommilitonen, Lehrern und Dozenten tatsächlich nötig sind, um ein Frühstudium überhaupt erst erfolgreich zu gestalten.

Ein Coaching für solche Interviews könnte gerade bei erfolgreichen Frühstudenten ein wichtiger Teil der Begabtenförderung sein. Wer auch immer als Elternteil, Lehrer, Dozent oder als Mitschüler das Glück hat, erfolgreiche Frühstudenten zu begleiten, sollte ein Auge darauf haben, dass diese nicht von den Medien zerfleischt werden. Und Journalisten sollten sich stets bewusst sein, dass sie mit ihren Artikeln massiv die öffentliche Wahrnehmung des Frühstudiums und von Frühstudenten prägen – es ist häufig die einzige Informationsquelle, aus der die Öffentlichkeit etwas vom Frühstudium erfährt.

Orangen oder Organensaft?

Mit der Zeit sammelte ich einiges an Interview-Erfahrung, wobei ich gefühlt immer wieder das Gleiche gefragt wurde und das Gleiche erzählte. Meistens durfte ich die Artikel nicht nochmals gegenlesen, bevor sie veröffentlicht wurden. Schade. Journalisten haben aber ihren eigenen Stolz, worüber und wie sie berichten. Das ist an sich nicht schlimm, da die Interviews nun wesentlich besser liefen und ich mir lieber zwei Mal überlegte, wie ich vom Frühstudium erzählte.

Es brachte mich jedoch manchmal zum Schmunzeln, wenn in einem Zeitungsartikel schließlich aus der Experimentalphysik die „Elementarphysik“ wurde, mein Onkel manchmal als Physiklehrer verkauft wurde, obwohl er „nur“ Physik studiert hatte, oder wenn Zeitungsartikel davon berichteten, wie ich ganze Klausuren mit voller Punktzahl bestanden hatte, obwohl ich eigentlich von zwei kleinen Tests im Rahmen der Vorlesung Experimentalphysik I erzählt hatte, bei denen es um Bonuspunkte für die Klausur am Semesterende ging.

Aber solche kleinen Ungenauigkeiten störten niemanden, immerhin war nicht mehr von „Überfliegern“ und „Hochbegabung“ die Rede. Die Presse tat ihren Job, presste den süßen Saft aus den Orangen und schenkte ihn der Leserschaft aus – ein Vorgeschmack darauf, wie Orangen wirklich schmecken.

Nach dem Abitur fragte mich meine Mentorin Frau Grit Gießmann, ob ich nicht Lust hätte, einen Erfahrungsbericht über mein Frühstudium zu schreiben. Das Staatsministerium für Kultus plane, eine Handreichung über Begabtenförderung im Freistaat Sachsen herauszugeben, und ganz am Ende würden auch einige Berichte aus der Praxis abgedruckt werden – über Mentoring, Einzelunterricht, Olympiaden, das Drehtürmodell und natürlich das Frühstudium!

Ich war begeistert: Endlich bekam ich die Chance, einmal selbst über meine Erfahrungen zu schreiben, so wie ich das Frühstudium erlebt hatte: mit allen seinen Höhen und Tiefen, mit der unvergleichlichen Unterstützung von Schule und Universität und schließlich der Aussicht, bald den Bachelor in Physik abzuschließen. Ich konnte davon schreiben, wie Orangenbäume heranwuchsen, wie ihre Bemühungen langsam Früchte trugen und wie am Ende die Orangen schmeckten – ohne darauf angewiesen zu sein, dass die Presse den Saft liefert. Dabei merkte ich auch, dass Schreiben mir Spaß macht – und siehe da, mittlerweile habe ich sogar ein ganzes Buch über das Frühstudium geschrieben.


Basierend auf drei Jahren eigener Erfahrung als Frühstudent hat Benjamin Wolba das erste Buch zum Frühstudium in Deutschland geschrieben.

Wer überlegt, ob das Frühstudium auch für die eigenen Schüler passen könnte, sollte unbedingt mal einen Blick in dieses Buch werfen!