Das Frühstudium klingt manchmal zu gut, um wahr zu sein. Es gibt also Schülerinnen und Schüler, die von sich aus etwas lernen wollen, die in ihrer Freizeit Vorlesungen an einer Universität besuchen und freiwillig sogar Klausuren mitschreiben. Wo gibt es denn so etwas?! Das Bild, das die meisten Lehrer in Deutschland montagmorgens von ihrer Schulklasse haben, sieht definitiv anders aus.
Wer hätte gedacht, dass es Schüler neben dem ganzen Arbeitsaufwand für die Schule schaffen können, noch den Besuch einer Vorlesung selbstständig zu koordinieren? Wer hätte gedacht, dass sie es schaffen können, einer Vorlesung zu folgen, wobei ihnen doch noch so viele Grundlagen aus dem Unterricht der Oberstufe fehlen? Und wer hätte gedacht, dass manche Schüler Universitätsklausuren besser absolvieren als normale Studenten?
Kaum einer hätte es für möglich gehalten, bevor es das Frühstudium gab. Und doch überraschen Frühstudenten uns immer wieder damit, wie sie das Frühstudium nutzen, um ihren Interessen nachzugehen, und dabei weiter kommen, als wir je für möglich gehalten haben. Das Frühstudium zeigt, wie viel Potenzial in Schülern steckt, was sich bei entsprechender Förderung entfalten kann.
Wie Frühstudenten lernen
Wie wäre es nun, wenn wir Bildung in der Schule ein bisschen mehr wie im Frühstudium gestalten würden? Ein bisschen freier, ein bisschen individueller, ein bisschen diverser. Wie wäre es, wenn mehr Schülerinnen und Schüler ähnliche Lernbedingungen hätten, wie sie aktuell vor allem Frühstudenten vorbehalten sind?
Ein großer Teil der Begeisterung für ein Frühstudium kommt genau daher, dass man sich Vorlesungen frei aussuchen kann. Endlich das lernen zu können, was man schon immer lernen wollte. Wie wäre es also, wenn es auch in der Schule mehr Freiräume gäbe, selbst zu bestimmen, was man lernen möchte, was einen interessiert und begeistert?
Viele Lehrer sehen sich (zurecht!) damit überfordert, Schüler individuell zu fördern; eine Herkulesaufgabe wenn man von festen Klassen, abgegrenzten Jahrgängen und starren Lehrplänen ausgeht. Wie auch soll man Unterricht individuell für jeden einzelnen Schüler oder Schülerin gestalten, wenn Klassen teils über 20 Schülern haben?! Wie wäre es stattdessen, Angebote zum selbstlernen schaffen, angefangen bei einer gut ausgestatteten Schulbibliothek bis hin zu Lerngruppen, Freiarbeitsphasen oder gar Onlinekursen. Und die Schüler dann selbst aus diesen Angeboten auswählen lassen?
Frühstudenten bestehen Prüfungen teils besser als normale Studenten, nicht nur, weil sie aus eigenem Interesse Vorlesungen besuchen, sondern auch, weil sie sich selbst und freiwillig dazu entscheiden, die Prüfung mitzuschreiben, und weil sie wissen, dass sie die Prüfung jederzeit nochmals schreiben können, wenn sie später “richtig” studieren. Dadurch entfällt eine Menge Druck und Prüfungsangst, und sie können sich mehr auf den eigentlichen Lernstoff konzentrieren und was daran interessant ist. Wie sinnvoll ist da das Konzept der „endgültig nicht bestandenen Prüfung“ an deutschen Universitäten? Geht es uns um lebenslanges Lernen und darum, Menschen in ihrer Bildung voranzubringen? Oder geht es uns darum, Korrekturaufwand für eine zusätzliche Klausur und Kosten zu sparen?
Wie sinnvoll ist es überhaupt, dass Prüfungen einem Thema eine Note zuweisen, unveränderlich, auf immer und ewig feststehend, ohne Raum zur Verbesserung und zum Dazulernen? Wie wollen wir damit Menschen motivieren, sich nochmals mit einem Thema zu beschäftigen und die eigenen Leistungen zu steigern, wenn es nur eine Chance gibt?
Nicht zuletzt profitieren Frühstudenten immens durch den Kontakt zu älteren Mitstudenten, können ihnen Fragen stellen, erfahren von deren Lebenswelt und entwickeln sich dadurch auch persönlich weiter. Sie kommen mit ganz unterschiedlichen Lebensgeschichten in Kontakt: Manche Mitstudenten haben direkt nach der Schule mit dem Studium begonnen und sind nur wenige Jahre älter. Andere haben schon eine Ausbildung absolviert, arbeiten neben dem Studium oder haben schon eine Familie gegründet. Und von allen können sie unterschiedliche Dinge lernen und Erfahrungen mitnehmen. Wie sinnvoll ist da eine strikte Alterstrennung in Schulklassen, die vor allem Gleichaltrige umfassen? Lässt es sich nicht von und mit Menschen verschiedenen Alters etwas lernen? Können sich Jüngere nicht weiter entwickeln durch den Kontakt zu Älteren, als wenn sie sich nur mit ihrer Altersgruppe vergleichen? Und können Ältere nicht auch noch etwas von Jüngeren lernen, zum Beispiel über Trends, die in ihrer „alten“ Altersgruppe noch nicht angekommen sind? Warum bildet man Lerngruppen nicht nach Interesse, unabhängig von Alter und Schulklasse?
Lernen wie Frühstudenten
Das Frühstudium schafft andere Strukturen und Freiheiten, als wir aus der Schule oder selbst aus einem Studium gewohnt sind. Man kann sich Vorlesungen völlig frei aussuchen, kann Prüfungen prinzipiell beliebig oft mitschreiben und kommt mit Studenten ganz unterschiedlichen Alters in Kontakt, die alle ein gewisses Grundinteresse an ihrem Studiengang verbindet. Natürlich müssen Frühstudenten erst lernen, mit diesen Freiheiten umzugehen. Aber dann nimmt das Frühstudium auch enorm positiven Einfluss, hilft nicht nur bei der Studienorientierung, sondern motiviert Schülerinnen und Schüler auch, von sich aus Neues zu lernen, spornt sie an, ihr Bestes zu geben, und hilft ihnen, sich selbst weiterzuentwickeln.
Aktuell erreicht das Frühstudium – wie viele Maßnahmen der Begabtenförderung – vor allem Kinder aus Akademikerfamilien, plakativ gesagt, die Bildungselite des Landes. Wie wäre es, wenn noch mehr Schülerinnen und Schüler von den Vorteilen des Frühstudiums profitieren könnten? Und damit meine ich nicht nur, dass mehr am Frühstudium teilnehmen könnten, sondern vor allem auch, dass wir Bildungsstrukturen umgestalten könnten, sodass mehr Schülerinnen und Schüler ihr Potenzial entfalten und das lernen können, was sie schon immer lernen wollten. Wir konzentrieren uns bisher vor allem darauf, engagierte Schüler als begabt zu labeln (Begabungserkennung) und diese Auserwählten gezielt zu fördern (Begabtenförderung). Bravo! Wie wäre es, als nächsten Schritt ein Umfeld zu schaffen, in dem Schüler ihre Begabungen entfalten können? Wir sollten nicht abwarten, bis Hochbegabte “gefunden” werden oder zufällig auftauchen, sondern die Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass sich Talente entwickeln können.
Das Frühstudium ist ein erster Schritt in Richtung eines freiheitlicheren Bildungssystems, das lebenslanges Lernen als einen kontinuierlichen Prozess sieht, der niemals durch Klausuren und Abschlüsse zu einem Ende kommt, sondern im Gegenteil durch stetes echtes Feedback angespornt wird. Es zeigt, wie viel Potenzial in Schülern steckt, und lässt erahnen, dass noch viel mehr Potenzial in unzähligen anderen Schülern wartet, die nicht am Frühstudium teilnehmen können.
Wie wäre es, wenn wir auch diesem Potenzial eine Chance geben? Wie wäre es, wenn Schule ein bisschen mehr wie Frühstudium wäre?
Basierend auf drei Jahren eigener Erfahrung als Frühstudent hat Benjamin Wolba das erste Buch zum Frühstudium in Deutschland geschrieben.
Wer überlegt, ob das Frühstudium auch für die eigenen Schüler passen könnte, sollte unbedingt mal einen Blick in dieses Buch werfen!