Der zweite Sommer im Zeichen von Corona neigt sich dem Ende entgegen. Die Pandemie nimmt Dynamiken wie im Zeitraffer vorweg und deckt zentrale Schwachstellen unseres Bildungssystems auf. Und doch werden diese offenen Baustellen nicht als Anlass für einen Neuanfang genommen, vielmehr ist man bemüht möglichst schnell zur “Normalität” zurückzukehren.

Lernen wird hier verstanden als das gleichzeitige und punktgenaue Zusammensitzen von Lernenden mit einer Lehrkraft, die Inhalte eines amtlichen Lehrplans präsentiert. Kann Präsenzunterricht in Zeiten der Pandemie nicht stattfinden, sitzen alle Schüler zum offiziellen Schulbeginn um 8 Uhr an ihrem Computer, zeigen ihre Präsenz und erledigen alle zeitgleich dieselbe Aufgabe. Die reine Anwesenheit, der erklärende Beamte, der gemeinsame Hefteintrag laut Bildungsplan und die anschließende Hausaufgabe zum Einüben des Erklärten – das ist nach diesem Verständnis „Lernen“ und sei es vor den schwarzen Kacheln gesichtsloser Videokonferenzen.

Fünf große Problembereiche

Menschliche Kontakte

Die Schüler scheinen in der Corona-Krisenzeit im Sommer 2020 und im Winter 2020/2021 nach ihren Aussagen am stärksten unter den Kontaktbeschränkungen zu leiden. Dabei sind zwischenmenschliche Kontakte sind wohl das Gesündeste, was uns widerfahren kann. Eine Studie der Young University im britischen Brigham verglich 2010 die Folgen geringer sozialer Kontakte mit der Schädlichkeit von 15 Zigaretten pro Tag.

👉 Wir müssen jetzt auch aus pädagogischer Sicht Kontakte ermöglichen, Lernen noch interaktiver gestalten und Schule noch mehr zu einem Ort gelungener menschlicher Beziehung machen.

Strukturen und Routinen

Fehlende Routinen und Strukturen in vielen Familien zeigten sich während des Lockdowns noch stärker als im „Normalbetrieb“. Soziale Benachteiligung hat in der Corona-Krise zu einem deutlich stärkeren Bildungsnachteil geführt. So beobachteten Lehrer aller Schularten und Regionen, dass Kinder bildungsferner Haushalte deutlich weniger die Online-Angebote nutzten, weniger erreichbar waren, weniger Ergebnisse lieferten und schneller im Eifer nachließen.

👉 Wir müssen also dringend sehen, wie häusliche Arbeitsstrukturen und freie Arbeitsstrukturen im schulischen Raum zu stärken sind.

Selbstständigkeit und Motivation

Es gibt Schulen, die über eine andere Lernkultur ihren halbwüchsigen Schülern Zieldefinition und Selbstständigkeit abverlangen können, weil diese das bereits früh gelernt haben. Wenn wir wissen, dass nachhaltiges Lernen mit großer Verstehenstiefe selbst entdeckend stattfindet, erscheint es widersinnig, die Schüler im Lockdown vor Live-Vorträge ihrer Lehrer zu setzen – mit Beweisklick zu Beginn und am Ende der Session. Hier werden alle Schwächen unseres Schulsystems – Standardisierung, Passivität und pflichtschuldiges Absitzen – fatalerweise in die digitale Welt übersetzt.

👉 Wir müssen jetzt Wege zu einer neuen Dimension des Lehrens und Lernens finden: Verantwortung der Schüler für Schule und Lernen sowie Selbstständigkeit als breite Kompetenz und Motivation aus der Sache heraus, die Lernprozesse steuert.

Gaming statt Leben

Eine Studie der DAK und des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf konstatiert im Juli 2020 ganze 700 000 Kinder und Jugendliche mit „pathologischem“ Gaming-Verhalten und registriert eine Zunahme der Computerspielnutzung um 75 Prozent im Vergleich zum September 2019. Die Nutzung sozialer digitaler Medien stieg demnach um 66 Prozent.

Die Folgen hohen Digitalkonsums auf Kosten von Bewegung, vielkanaligen Erfahrungen und leibhaftigen Kontakten mit anderen Menschen und stören die Entwicklung unserer Intelligenz und der sogenannten exekutiven Funktionen: Konzentration, Empathie und Arbeitsgedächtnis. Das Lernen insgesamt gelingt schwerer, wenn zu wenige wirkliche Erfahrungen gemacht werden.

👉 Wir müssen jetzt den Kindern und Jugendlichen umso mehr aktive und kommunikative Erfahrungen mit allen Sinnen, mit Bewegung und Koordination ermöglichen.

Digitale Defizite

Obwohl unsere Schüler als „Digital Natives“ mit Smartphone und Computer aufgewachsen sind, haben sie sich doch als erstaunlich unkundig im Arbeiten mit digitalen Geräten erwiesen. Coworking-Plattformen, Kompositionsprogramme, Textbearbeitung oder Konferenz-Tools – das hatten die Kinder noch nie bedient, und es war ihnen schwer auf die Distanz zu erklären. Zumal so mancher Lehrer hier ebenfalls Neuling war. Es offenbarte sich ein „Allround“-Digitaldefizit in den „Skills“ von Lehrern und Schülern, der Ausstattung an Geräten und den Internetkapazitäten in Schule und zu Hause.

👉 Wir müssen jetzt schlüssige Digitalkonzepte vorlegen, die den Schulen mit ihrem jeweiligen Umfeld passende Geräte und Programme in ein stimmiges Gesamtkonzept bringen. Dazu sollten wir wesentlich mehr Austausch unter Lehrern, Schulen und Bundesländern betreiben.

Was jetzt wichtig ist

Die Pandemie hat nicht einfach in Zeiten des Lockdowns Schwierigkeiten gemacht, sondern hat in vielen Bereichen unseres Lebens bereits bestehende Schwächen aufgedeckt und schmerzlich zutage treten lassen, ganz besonders im Bereich der Schulen. Es kann daher nicht darum gehen, möglichst schnell zum „Normalbetrieb“ vor Corona zurückzufinden, wie das praktisch alle Gruppen – Lehrerverbände, Schülervertreter, Bildungspolitiker und Medien – anstreben. Und es ist beunruhigend, dass genauso unisono Lücken im Abarbeiten der Lehrpläne als erste Besorgnis geäußert wurden und werden.

Vordefinierte Mengen an Inhalt sind für das Gehirn weitaus weniger relevant als beständiger, aktiver Umgang mit Inhalten. Es ist wesentlich wichtiger, dass die komplexen Systeme „Schüler“ wieder mit allen Sinnen, mit Bewegung und Koordination, mit Motivation und Kommunikation, intensiv und angestrengt ihre Gehirne ganzheitlich trainieren. 

Es ist die tragische Ideenlosigkeit von Bildungspolitik und Schulstrukturen, die nun die Schüler täglich sechs Stunden auf einem Stuhl „festnagelt“ und mit der gesteigerten Inhaltsfülle in den Hauptfächern anzufüllen. Ist das ein Umfeld, in dem ein Gehirn gut lernen, gar Defizite aufholen kann?

Ein Vergleich mit der Landwirtschaft: Es ist, als würde man einen konventionell in Monokultur betriebenen Acker in der Dürrekrise mit noch mehr Kunstdünger und Pestiziden traktieren. Sollte nicht auch ein solcher Acker wie eine zu unbewegliche Schule umgestellt werden auf naturangepasste, vielfältige, Resilienz schaffende Methoden? Eine Schulpraxis, die Selbstständigkeit, psychische Stabilität, multisensorisches Lernen, körperliche Betätigung und gute soziale Beziehungen fördert, tut genau das, denkt „ökologisch“ und sieht Schüler nicht als Computer, die schlicht mit Daten gefüttert werden müssen. Sie sieht die Schüler als Systeme, die ganzheitlich und erkenntnisbasiert gestärkt werden müssen. 


In seinem Buch “Neugier entfesseln” hat Oliver Kunkel mit der Draußenschule ein Konzept vorgestellt, was – auch im Blick auf den Infektionsschutz – draußen und in der Nutzung des ganzen Schulhauses möglich wäre, statt mit voller Besetzung ganze Vormittage lang in Unterrichtsräume gesteckt zu werden.

Dieses Buch zeigt, dass Schule auch anders geht: mit ‘Active Learning’ und ‘Retrieval Practice’, unter Einbeziehung von Achtsamkeit und Mitgefühl und der ‘Draußen-Schule’.